Franz Hildebrandt: Erinnerungen an das Pfarrhaus

Franz Hildebrandt – Hilfsprediger in Dahlem – beschreibt in seinem Buch „Martin Niemöller und sein Bekenntnis“ in lebendigen Worten die Umtriebigkeit des Pfarrers Niemöller und die Atmosphäre in dessen Pfarrhaus, dem heutigen Martin-Niemöller-Haus.

Das Pfarrhaus Martin Niemöllers

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Gesprochen von: Johannes Ostermann
Ausgangsquelle: Franz Hildebrandt: Martin Niemöller und sein Bekenntnis, S. 46ff.

Text aus Franz Hildebrandt: Martin Niemöller und sein Bekenntnis, S. 46ff.

Als Martin Niemöller 1931 in sein erstes Gemeindepfarramt nach Berlin-Dahlem berufen wurde, einem Vorort mit geringem Verkehr und einer für die Großstadt kleinen Seelenzahl, da konnte er so wenig ahnen wie sonst irgend jemand, welche Stürme das stille Pfarrhaus neben der Dorfkirche und dem alten Friedhof, in das er einzog, zwei Jahre später schon erleben sollte. Es ist ein Ort, durchaus für Romantik und Beschaulichkeit geschaffen, der nun zum zentralen Kriegsschauplatz des deutschen Kirchenkampfes geworden ist. Nirgends ist die Legende von dem „idyllischen Leben des Dorfpastors“ so gründlich widerlegt worden wie hier.

Die Spannung und Unruhe in diesem Hause teilt sich jedem, der es zum erstenmal aufsucht, unmittelbar mit: in allen Zimmern sitzen Wartende verteilt, andauernd geht die Türklingel und das Telefon, Kindergeschrei und Bürolärm durchdringt die Wände, und „er“ ist immer nur für Augenblicke zwischen zwei oder drei verschiedenen Dingen, die gleichzeitig zu erledigen sind, sichtbar.

Das kurze Tagebuch das er führt, registriert nur die Tatsachen und Personen, mit denen er zu tun hat; aber selbst seinem guten Gedächtnis fällt es oft schon am Abend schwer, alle Geschäfte des abgelaufenen Tages festzuhalten.

Um 8 Uhr morgens ist, zwei- oder viermal in der Woche, Konfirmandenunterricht im benachbarten Gemeindehaus; das Frühstück vorher ist eine der ganz seltenen Gelegenheiten für den Hausvater, mit seiner Familie zusammenzusein. Um 9 Uhr kommt die Sekretärin zum Diktieren der Briefe, das oft den halben Vormittag in Anspruch nimmt und von zahllosen Telefonanrufen und Sprechstundenbesuchern unterbrochen wird; gegen Mittag geht es dann in aller Eile zur nächsten Bruderratssitzung oder Pfarrerversammlung in der Stadt, die gewöhnlich schon morgens begonnen hatte und bei der Niemöller dringend erwartet wird. Er bleibt aber dort nur so lange wie unbedingt nötig, um sofort wieder nach Hause zu einem schnellen Imbiß zurückzukehren und sich dann in die Kirche zur Trauung oder auf den Friedhof zur Beerdigung zu begeben.

Nicht immer sind es Dahlemer Amtshandlungen, die ihn rufen; längst hat es sich in Berlin eingebürgert, daß Familien von allen Enden der Stadt her bei ihren kirchlichen Feiern sich an Niemöller wenden. Und sie können sicher sein, keine Absage und auch keinen Vertreter geschickt zu bekommen. Um 3 Uhr ist wieder zweimal in der Woche Konfirmandenunterricht, der mit einer kurzen Pause bis 7 Uhr dauert; es sind durch durchschnittlich 100-200 Kinder in verschiedenen Klassen, die Niemöller in (zusammen) 10 Wochenstunden unterrichtet. Er hängt an dieser Arbeit besonders und hält Sie für so wichtig, daß er das pflichtmäßige eine Jahr auf zwei erweitert und diese Lehrzeit für seine Schüler zur Bedingung gemacht hat; ein Vorschlag, der umsomehr Nachfolger findet, je spärlicher und schwieriger die christliche Erziehung außerhalb der Kirche wird.

Am Abend ist alle 14 Tage die „Katechismusstunde“ für die Gemeinde in Dahlem; die Zeit dazwischen ist gewöhnlich auf Monate hinaus so besetzt, daß Niemöller fast täglich an einem andern Ort zu sprechen hat; oft muß er mittags oder schon am Vorabend Berlin verlassen und mit einem Nachtzug zurückkehren, um morgens wieder um 8 Uhr bei seinen Konfirmanden zu sein. Kann er einmal zu Hause bleiben, so kommt er niemals vor Mitternacht ins Bett, da abendliche Besprechungen, Nachtsitzungen oder wenigstens Besuche von Freunden angesagt sind.

Niemöller ist ein außerordentlich schlechter Esser — man sieht es ihm wahrhaftig an —, aber ein ungewöhnlich guter Schläfer, der nachts in der Bahn wie mittags im Lehnstuhl wirklich auszuruhen vermag; vorausgesetzt, daß er ein paar Minuten übrig hat. Daß ihm nicht gerade viel Zeit dafür bleibt, versteht sich aus dem Programm des Tages von selbst, zu dem ja nicht zuletzt auch noch die Vorbereitung jeder Stunde, Ansprache und Rede gehört.

Der Mittelpunkt aller Arbeit im Haus ist der Schreibtisch. Ueber ihm hängen Bilder der Dahlemer Kirchen, des vorigen Niemöllerschen Pfarrhauses in Münster und der elterlichen Heimat. Auf dem Tisch selbst die schon erwähnten Karten mit Bibel- oder Lutherworten, eine Fülle von Akten und Briefen, Tageskalender und Kursbuch und vor allem die beiden Telefonapparate. Daneben griffbereit Bibel und Gesangbuch, Kommentare und Agenden. In dem Ganzen eine musterhafte Ordnung; Niemöllers Freunde haben ihn manchmal damit geneckt, daß seine erste Tat beim Betreten des Zimmers das Aufräumen seines Schreibtisches ist, von dem ihn kaum ein Gast abzuhalten vermag. Er verfolgt dann die Unterhaltung mit dem Rücken zu den Besuchern, und das einzige Mittel, ihn zum Umdrehen zu bringen, ist das Herausziehen und Studieren einer neuen kirchlichen Drucksache, die ihm noch nicht bekannt ist. Dieser Fanatismus der Ordnung ist ein Bestandteil seiner preußischen Tradition; die Korrektheit des Offiziers prägt sich auch in seiner Handschrift aus, die jedes Konzept von ihm mühelos lesbar macht. Ein verschwundener Zettel kann ihn rasend machen und seine Umgebung hat es dann nicht leicht mit ihm; naturgemäß ist für sein explosives Temperament der ruhigste Mitarbeiter der beste.

Aber Niemöller gehört zu dem Typus, der alles allein tut; er hat nicht das Talent, andere für sich arbeiten zu lassen. Es ist erstaunlich, wie umfangreich und vielseitig die Produktion ist, die von seinem Schreibtisch ausgeht; mit dem ganzen Land steht er in Korrespondenz, und jeder holt sich von ihm Auskunft und Rat. Tägliche Berichte von Freunden aus allen Provinzen geben ihm erschöpfende Uebersicht über alles, was in der Kirche vorgeht; seelsorgerliche Beratung und kirchenpolitische Auseinandersetzung nimmt einen großen Raum in den Briefen ein; daneben stehen Finanz- und Verwaltungsfragen, insbesondere für den Pfarrernotbund, dem Niemöllers organisatorische Erfahrung aus seinen westfälischen Amtsjahren sehr zugute kommt; dann wieder Gutachten für Synoden und Bruderräte und eine besondere Abteilung für den Verkehr mit den amtlichen Kirchen- und Reichsbehörden. Wo die offizielle Vertretung der Kirche versagt und geschwiegen hat, wenn das EyangeIium und die 10 Gebote in der Oeffentlichkeit angetastet wurden, da sind Niemöllers Briefe weithin der Mund der Gemeinden gewesen; und es gab keine Adresse, vor der er sich gescheut hätte, offen und unerschrocken die Wahrheit auszusprechen.

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